Buch der Erinnerung

Ein wildes Leben

Adnan, Laureens Mann, stellt mir seinen Freund Ayoub vor und ich bin sofort eingenommen von seinem guten Aussehen, aber auch von seinem guten Benehmen. Er ist überaus höflich und zuvorkommend, fragt mich, ob er mir noch etwas zu trinken bringen kann und stellt sich im Gespräch auf meine Interessen ein. So verbringe ich einen beschwingten Abend und verabschiede mich bestens gelaunt spät in der Nacht, als die meisten Gäste aufbrechen.

Am nächsten Tag staune ich nicht schlecht, als sich Ayoub telefonisch nach meinem Befinden erkundigt und ob ich gut nach Hause gekommen sei. Er sei zufällig in der Gegend und ob wir uns auf einen Kaffee treffen könnten. Dies ist der Beginn einer netten Freundschaft und ich genieße es, von diesem charmanten, höflichen, doch einige Jahre älteren, Mann umgarnt zu werden. 

Er möchte meinen Vater kennen lernen und würde gerne für ihn kochen. Das ist natürlich ein unwiderstehliches Angebot und so lernen sich die beiden Männer bei mir zu Hause kennen. Ayoub bringt als Gastgeschenk eine Langspielplatte mit, die Scheherazade von Rimsky-Korsakov. Ich bin begeistert, dass er meinen Musikgeschmack so trifft.

Er kocht fantastisch! Es gibt Putenoberkeule im Römertopf mit Gemüse und Tomaten und so gewinnt er meinen Vater und natürlich auch mich. Er kann wunderschön erzählen und wir fühlen uns schon bald wie im Märchen von 1001 Nacht.

Da ich zurzeit kein Auto habe, meint Ayoub, ich könne ruhig seinen BMW haben, da er ihn zurzeit nicht brauchen würde. Na, das lass ich mir nicht zwei Mal sagen und fahre stolz wie Bolle bei „meiner“ Spedition vor. Meine Kollegen fragen dann auch etwas spöttisch und vielleicht auch bisschen neidisch, ob bei mir der Reichtum ausgebrochen sei. Es macht mir einen riesen Spaß, mit diesem schicken Auto herum zu düsen. Ich lade Laureen ein, mit mir eine Spritztour zu machen und wir genießen die anerkennenden Blicke. Ja, wir machen schon eine gute Figur in dieser Edel-Karosse. Ich schwärme ihr von Ayoub vor und sie freut sich mit mir, dass ich so verliebt bin. Ach, das Leben ist schön!

Ayoub meint dann, ob ich mir so einen BMW selbst verdienen wolle und mit ihm und einigen anderen Autos überführen würde nach Ägypten. Wir würden im Konvoy mehrere Autos nach Venedig fahren, und dort aufs Schiff, um so nach Ägypten zu reisen. Der Lohn dafür sei so hoch, dass ich mir davon einen guten gebrauchten BMW würde leisten können und natürlich sei die Schiffspassage und Kost und Logis in Ägypten  inklusive.

Meine Abenteuerlust erwacht und ich verspreche, es mir zu überlegen, nachdem er betont, dass das ein ganz legales Geschäft sei und er das jedes Jahr machen würde und damit gutes Geld verdiene.

Ich träume von 1001 Nacht und stelle es mir märchenhaft vor, Ägypten zu bereisen. Und mit Ayoub zusammen wäre ich ja auch beschützt und in guten Händen.

Ayoub ist dann auch begeistert als ich ihm sage, dass ich zur vereinbarten Zeit Urlaub bekäme und mich freuen würde, mit ihm diese Reise zu unternehmen. Er umarmt mich zärtlich und flüstert mir arabische Liebesworte ins Ohr. Habibi! Es ist zum dahin Schmelzen. Ich bin doch ein echtes Glückskind!

Wir treffen uns am vereinbarten Parkplatz im Osten Münchens, um die Autos zu übernehmen. Außer Ayoub und mir sind noch 5 junge Männer mit von der Partie und wir steigen in verschiedene BMWs und Mercedes  und los geht die Fahrt in Richtung bella Italia. Ich bin in bester Stimmung und singe vor mich hin. Ich fahre gern und gut Auto und wir erreichen allesamt wohlbehalten Venedig. Wir fahren zum Camping Platz „Camping Fusina“, der mit dem Vaporetto nur 20 Minuten vom Zentrum Venedigs entfernt liegt. Dort gibt es nicht nur ein Ristorante sondern auch einen Supermercato, in dem wir noch einkaufen für die Reise nach Ägypten. Alles ist wirklich bestens organisiert und ich bin in Hochstimmung und genieße all die neuen Eindrücke. Wir übernachten in sogenannten Mobilehomes und ich finde alles spannend und aufregend.

Freiheit leben

Am nächsten Morgen sind wir alle ausgeruht und gut drauf und fahren die 8 km mit unseren Autos zur Fähre Espresso Egitto. Um die Formalitäten brauche ich mich Gott sei Dank nicht zu kümmern, das erledigt alles souverän Ayoub und einer seiner Kollegen. Als die Autos gut verstaut sind im Bauch der riesigen Fähre, erkunde ich das Deck und staune über die Höhe des Schiffes. Jeder von uns bekommt seine Kabine zugewiesen, Ayoub und ich eine Doppelkabine. Ich bin total begeistert! Die Kabine ist ausgestattet wie ein richtiges Hotelzimmer. Ich verstaue unsere Sachen und freue mich auf das Ablegen der Fähre. Noch ahne ich nicht, dass ich mich zurücksehnen werde nach dem sicheren Hafen in Venedig.

 

Wir legen ab und ich kann es irgendwie noch gar nicht fassen: Meine erste Reise mit dem Schiff nach Ägypten. Ich kann mich nicht satt sehen an der Hafen-Kulisse, als Ayoub mich bittet, in die Kabine zu gehen und den Fotoapparat zu holen. Ich sage, dass ich das gleich machen würde, wenn wir abgelegt hätten, weil ich das grad so schön fände, dem Trubel und den winkenden Menschen zuzusehen. Da trifft mich seine Hand hart im Gesicht. Was war das? Ich kann es nicht denken! Ayoub sagt ungerührt: „Jetzt!“ und weiter: „ Ich meine immer „jetzt“, wenn ich „jetzt“ sage!“ Ich schaue ihn entgeistert an. „Kannst Du mir erklären, was das soll, Ayoub?“ frage ich ihn. Er sagt: „Da gibt es nichts zu erklären. Du tust einfach das, was ich Dich bitte zu tun und zwar immer sofort!“ Ich gehe völlig verdattert Richtung Kabine. Mein Gehirn arbeitet fieberhaft. Ich versuche das eben Geschehene zu erfassen, zu verarbeiten. Ich kann es einfach nicht einordnen. Hatte mich Ayoub wirklich geschlagen? Der feine, charmante, rücksichtsvolle, gut erzogene Ayoub?

Ich bringe ihm die Kamera und gehe zurück zur Kabine und lege mich aufs Bett. Ich bin so fassungslos. Und langsam beschleicht mich eine Angst und eine Gewissheit: ich war ihm ausgeliefert. Jetzt, da das Schiff abgelegt hatte, konnte ich nicht zurück. Ich musste mit ihm diese Reise durch ziehen. Und was mich in Ägypten erwarten würde machte mir jetzt mehr Angst als Vorfreude.