Ich komme völlig verdreckt und verschreckt in Viana an. Erleichtert stolpere ich in die Albergue. Eine keifende Stimme mahnt mich, sofort die Schuhe auszuziehen. „Na wunderbar!“ denke ich, „ das ist jetzt eine dieser vielbeschriebenen Herbergsmütter, deren eigentlicher Beruf Hexe ist.“ Warum nur Herbergsmütter oft so böse waren? Waren sie „untervögelt“ wie ich das in einem Roman von Kerstin Gier gelesen hatte?
Ja, ich weiß, ein boshafter und sehr unheiliger Gedanke. Aber ich bin bedient. Besonders als ich mein, mir zugewiesenes Bett in einem winzigen, fensterlosen (!) Raum mit 3-stöckigen (!!!) Betten finde. Nein, das darf doch nicht wahr sein. In diesem Zimmer würden 15 Menschen schlafen ohne Luftzufuhr? Meine Platzangst hatte ich schon relativ gut im Griff. Aber ohne Luft würde ich das nicht schaffen. Die Herbergsmutter funkelt mich böse an, als ich sie nach einem anderen Bett in einem Zimmer mit Fenster frage.
Soviel ich verstehe, will sie mich ganz aus der Herberge schmeißen. Lieber nehme ich, was ich bekommen kann, als nochmal in den Regen hinauszugehen und verdrücke mich schnell in Richtung Treppe, unter der sich ein Pärchen ein Lager für die Nacht eingerichtet hat. Die beiden kenne ich. Jedes Mal wenn ich ihnen begegne, laufen sie Hand in Hand. Selbst jetzt auf ihrem Lager halten sie Händchen. Ich habe gehört, dass sich auf dem Jakobsweg einiges tut im Beziehungsleben. Es gibt Paare, die sich so nahe kommen, dass sie nichts mehr trennen kann. Ebenso verlieren sich Menschen auf dem Camino. Sie erkennen, dass sie etwas leben, das absolut nicht stimmig für sie ist. Sie beschließen den weiteren Weg und Lebensweg alleine weiter zu gehen. Der Camino bringt gnadenlos ans Licht, was sich bislang verborgen hat unter Alltagspflichten und Gewohnheit.
Ich klettere auf eines der obersten Betten, nahe an der Tür. Es schwankt bedenklich, aber in eines der unteren Betten will ich nicht, da ich dort noch stärker mit Platzangst zu kämpfen habe.
Das Pilgermenü mundet mir heute so gut, dass ich es sogar in meinem Tagebüchlein notiere: „Mei, schmeckt das gut!!!“ Besonders das Glas Wein, das zum Pilgermenü gehört, schmeckt mir. Es belebt die Sinne und vertreibt triste Gedanken über das Wetter, das für diese Jahreszeit definitiv zu kalt ist.
Ich verabschiede mich von Natalie, wünsche ihr „buon camino“ und trete in die kalte, klare Luft hinaus. Gleich gegenüber sehe ich ein Schild, auf dem steht „Refugio abierto“. Ich werde beim Eintreten von einem „Urvieh“ von Herbergsvater mit langem weißen Rauschebart polternd herzlich begrüßt mit einer Umarmung. Er hebt mich mit Leichtigkeit in die Luft, um mich dann lachend wieder auf meine Füße zu stellen. Ich bin die erste Pilgerin heute und er zeigt mir gut gelaunt den Schlafsaal. Begeistert sehe ich, dass es eine feudale Herberge ist mit Trennwänden zwischen den Stockbetten. So ein bisschen Privatsphäre genieße ich, denn das ist selten auf dem Weg. Da verzeihe ich sogar die eiskalte Dusche und das Wäschewaschen mit kaltem Wasser. Ein kleiner, entzückender Garten mit einem Fliederbusch empfängt mich zugleich mit einem kleinen Sonnenstrahl. Hier hänge ich meine Wäsche auf und setze mich dann nahe am Haus in die Sonne. Weitere Pilger gesellen sich dazu und ich höre einen Österreicher, bestimmt ein Wiener, wie er nach Hause telefoniert und sagt: „Das Wetter ist die Pest!“ Er weiß noch nicht, dass ich ihn verstehe. Wir lachen beide, als ich ihn, den Wiener Dialekt nachahmend, anspreche. Es treffen sich alle möglichen Nationalitäten auf dem Camino, wie der Jakobsweg in Spanien genannt wird.