Dann kam Silvester 1974 auf 1975. Ich freute mich auf diese Nacht mit der spektakulären Darbietung in „meinem“ exklusiven Club.
Es war ein ausgelassenes Treiben. Champagner-Korken knallten schon den ganzen Abend und ich lernte das erste Mal den Unterschied kennen zwischen Heidsieck und Veuve Cliyquot, zwischen Pommery und Dom Pérignon. Und ja, ich genoss die schillernde Atmosphäre, die herrlichen Roben der Damen, die eleganten Herren und den bombastischen Auftritt einer brasilianischen Truppe mit prächtigen Kostümen aus bunten Federn und gewaltigem Kopfschmuck.
Die Stimmung war prickelnd wie der Champagner, die Musik fetzig und aufheizend. Die Rauchschwaden zogen durch den Raum und die dämmrige Atmosphäre hatte etwas von Dekadenz und Lust, von Erotik und Ausgelassenheit. Ich selbst fühlte einfach eine kindliche Freude, in dieser, für mich so fremden, schillernden Welt, dabei zu sein.
Es war noch nicht Mitternacht, da durchzuckte mich ein wahnsinniger Schmerz in einem Bein. Ich fiel auf den Boden. Ein ziehender, dann wieder stechender Schmerz tobte durch mein rechtes Bein. Ich versuchte aufzustehen. Es gelang mir nicht. Ich war verzweifelt, weil ich merkte, dass ich den ganzen Ablauf störte – es war ja kurz vor dem Jahreswechsel und die Gäste wollten volle Gläser haben. Ja, es war furchtbar, auf diese Weise plötzlich im Mittelpunkt zu stehen. Ich wurde von den gerufenen Sanitätern auf eine Trage gepackt und wurde unter all den neugierigen Blicken hinaus in die kalte Winternacht getragen.
Abrupter hätte ein Szenenwechsel nicht sein können.
Die Nacht war klar und kalt. Die Straße menschenleer. Aus dem oberen Stock drang gedämpft die Musik, die mich vor wenigen Minuten noch selbst so berauschte.
Nicht ahnend, was dieser Schmerz bedeutete, der mich bewegungsunfähig gemacht hatte, überkam mich eine ohnmächtige Angst, die mich ab da noch lange begleiten sollte.
In der Klinik erwartete mich die nächste äußerst unangenehme Erfahrung. Bei Einlieferung wurde ich nach meiner Krankenversicherung befragt und ich musste erklären, dass ich noch nicht angemeldet war und keine Versicherung hatte. Sofort wurde ich aus dem Drei-Bett-Zimmer in ein Zimmer mit neun (!) Betten geschoben. Ich wurde als Sozialfall behandelt. Ein Stempel, der mich als Menschen zweiter Klasse auswies. Und das sollte ich den ganzen Aufenthalt über zu spüren bekommen.
Erst mal wurde ich mit Schmerzmitteln schlafen gelegt und bekam die Auflage, nicht aufzustehen, da ein Verdacht auf Thrombose bestand. Die Ungewissheit, die Ohnmacht und die fremde, abweisende Umgebung ließ mich allerdings nicht schlafen. Unruhig wälzte ich mich hin und her, erntete so manches „psssst!!“ und ich war froh, als endlich die Nacht vorüber war. Dann begannen die Untersuchungen und ich wurde vorbereitet auf eine Phlebographie (Untersuchung der Venen mittels Kontrastmittel). Das Bein schmerzte ja schon höllisch, ein ganz ekelhaftes Ziehen und Stechen, aber nun wurde auch noch das Kontrastmittel gespritzt. Ich hätte heulen können. Der Druck in meinem Bein nahm zu. Ich hatte Angst, dass die Adern platzen könnten. Noch schlimmer als der körperliche Schmerz war jedoch der seelische Schmerz, der gerade jetzt wieder aufwallte und mir zeigte, wie allein ich war. Ich fühlte mich so verlassen, fühlte mich so ohnmächtig ausgeliefert. Aber ich wollte ja nicht zusätzlich auffallen und biss die Zähne zusammen, verhielt mich ruhig und tapfer.
Diagnostiziert wurde eine Thrombose und die Therapie bestand aus der Behandlung mit Marcomar (ein Blutverdünnungs-Mittel) und strikter Bettruhe.
Ich wurde gefragt, ob ich jemanden hätte, der mir Nachthemden, Waschzeug und was ich sonst so brauche, bringen würde. Ich gab die Telefonnummer von ein paar Kollegen aus dem Nacht-Club der Schwester, die für mich dort anrufen wollte.
Sie meinte, dass eine Hellgrid sich gemeldet habe und sie mal schaue, ob sie das managen könne. Es hat sich nie jemand bei mir gemeldet, geschweige denn, mir meine benötigten Sachen gebracht.
Dieses Verlassenheitsgefühl verstärkte meine Angst. Ich hatte niemanden, mit dem ich reden konnte. Ich wollte niemandem zur Last fallen und igelte mich ein und betete, dass ich das alles irgendwie überstehen möge.
Meinen Vater in München anzurufen und ihn um Hilfe zu bitten, wäre mir im Traum nicht eingefallen und zwischen meiner Mutter und mir war immer noch Funkstille. Ich wollte „es“ alleine schaffen. Alles wollte ich immer alleine schaffen. Niemals sollte jemand mich klein, schwach, hilflos sehen. Niemals wollte ich klagen, wie ich das von meiner Mutter kannte. Meine Mutter klagte und jammerte in letzter Zeit fast beständig über irgendwelche Symptome, die kein Arzt je bestätigen konnte. Diese Hypochondrie wollte ich auf keinen Fall an den Tag legen. Aber es war furchtbar, diese Einsamkeit, diese Verlassenheit zu fühlen.
Ich senkte den Altersdurchschnitt in diesem Zimmer erheblich. Diese alten Frauen waren verschlossen und wortkarg. Irgendwie wollte niemand mit mir reden. Außer das Notwendigste. Genauso die Schwestern. Ja, ich wurde versorgt, mit Medikamenten, Essen und bei Bedarf mit der Schüssel. Aber nicht mit aufmunternden Worten oder einem Lächeln. Ich war der Sozialfall, der schwarz in einem „Etablissement“ arbeitete. Das war nicht jemand, mit dem man gerne zu tun hatte.
Ein Lichtblick war eine junge Frau, die völlig abgemagert eingeliefert wurde. Sie redete mit mir. Erzählte mir von ihren furchtbaren Schmerzen, von ihrer Hoffnung, wieder gesund zu werden und von ihren Kindern und sie hörte mir zu. Ja, sie gab mir wieder ein Gefühl von „in Ordnung sein“.
Ich freute mich mit ihr über ihren Besuch ihrer beiden kleinen Kinder und ihres Mannes. Ich schmiedete mit ihr Pläne. Und freute mich, dass sie mich zu sich einlud, wenn wir hier wieder entlassen wären. Sie träumte davon, wieder zu zunehmen, wieder richtig schöne Kleider zu tragen. Und als sie zur Operation rausgefahren wurde lächelte sie mir zu und hob den rechten Daumen. Ja, sie freute sich auf diese Operation, weil sie so große Erwartungen daran knüpfte.
Leider kam sie nach ihrer Operation nicht wieder in das gleiche Zimmer und ich heulte über diesen neuerlichen Verlust. Besuchen konnte ich sie nicht, da ich nicht aufstehen durfte. Es war einfach alles wieder so trostlos, wie vorher.
Nach meiner Entlassung wollte ich sie besuchen und fragte nach ihr. Sie war nach der Operation gestorben. Ich hatte keine Telefonnummer, keine Adresse von ihrem Mann und in der Klinik durfte man sie mir auch nicht geben.
Ich muss im Rückblick fassungslos erkennen, dass mich eine totkranke Frau getröstet hat. Sie, die sicher am meisten Trost bedurfte, hat sich meiner angenommen.